Götterdämmerung
Aus der Serie «Sprachperlen»
(stu) Da ist dieser schöne Holzkantel aus bestgelagertem und für Schnitzerei bestgemasertem Lindenholz mit einem Stück stehengelassener Baumrinde, als Garant für Echtheit und als sentimentaler Akzent des Heimeligen auf Teufel komm raus. Denn in der Tat ist dieser hochgestellte Kantel durch das Arrangement von adretten und der weissen Rasse zugehörigen Figürchen aus dem apolitischen Modellbaubedarf zur politisch und überpolitisch böse einfahrenden Installation gepimpt.
Auf der stehenden Schmalseite dieses Holzes beginnt ganz plötzlich aus dem Off sich hektoplasmierend die Menschenmenge, die sich nach oben zur Spitze und dann gleich darüber hinaus auf diesem dann bequem abwärts geneigte Catwalk des Lebens fortbewegt – noch ohne allerdings den drohenden Abgrund wahrgenommen zu haben. Dieser die Menschheit bedeutende Pulk von gelassenen Leutchen, schauen überall hin nur nicht auf den nach der Klimax offensichtlichen und unumgänglichen Abgrund. Wir, die Betrachtenden, die wir quasi aus einer extraterrestrischen Loge dieses sonntäglich anmutende farbige Menetekel und Memento Mori in der Dimension einer Ameisenstrasse begutachten, wissen es natürlich sofort besser, ja viel viel besser: die ganze Menschheit sofort Stopp! Keinen Schritt weiter! Jeder Fortschritt zieht unweigerlich den tödlichen Absturz nach sich! Und wie gesagt, als Besserwisser haben wir ja auch immer recht. Und wie recht wir haben, verdammt noch mal!
Natürlich gibt es da noch einige Fragen und Probleme, die wir irgendwie nicht outsourcen können, weil dafür noch immer kein wie auch immer geartetes Facilitymanagement
bereitsteht, gerade diese Marktlücke nützen zu wollen. Vor allem stellt sich das Problem, wie bzw. mit welcher Energie man den Bewegungsvektor einer überaus mächtigen und stetig wachsenden trägen Masse auf Null setzen kann.
Wer jetzt von Denken, von Demokratie, von Einsicht, von Erziehung und so weiter redet, hat ganz und gar meine Sympathie – allerdings bin ich ein hoffnungslos optimistischer Trotzalledem-Menschenfreund, der eigentlich weiss, dass nur sehr junge und mit der menschlichen Natur noch nicht vertraute Menschen solch hoffnungsvolle Illusionen und Utopien zu realisieren für möglich halten.
Dieses gestaltete Stück Baum ist, wie es die alten altnordischen Kulturen gemäss ihrem Mythos gesehen hätten, nur noch ein kläglicher Rest des einstmals die Welt und den Kosmos darstellenden gigantischen Lebens-Baumes, der heiligen Yggdrasil, in dessen Geäst der Mensch mit seinen Göttern lebte. Der altnordische Mythos kannte auch schon jene zukünftige fast alles vernichtende Katastrophe, vor der auch die Offenbarung des Johannes warnt. Sie nannten dieses Ereignis, nach dem rein gar nichts mehr so sein würde, wie vorher, Götterdämmerung.
Der Mensch war also schon immer ein verdammt schlaues Wesen, das sehr präzise über seine elementare Unzulänglichkeit und Blödheit Bescheid wusste und diese so grandiose Erkenntnis auch noch in vielfältigstem künstlerischem Ausdruck festzuhalten wusste. Was ist zu tun? Gut, gibt es für jede Verlegenheit immer irgend einen gescheit-schönen und von allem ablenkenden Sinnspruch. Hier scheint mir eignet sich das lateinische „Vita brevis ars longa“ auf Deutsch „Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang.“ (zum Werk)
Mai 2015, W. Studer