Zurück in die Zukunft der Blau-Wahrnehmung
Aus der Serie «Sprachperlen»
(stu) Eine seltsam elegant dahin drehende Stacheldraht-Spirale, die wie ein Modell im Maßstab 1:100 eines Tornados allein schon daher Ungutes ahnen lässt und die auf dem üblichen Podest des Kunstwerkers je nach Lichteinfall merkwürdige und unheimelige Schatten wirft, die uns diffus an schreckliche nur schlecht verdrängte Bilder mahnt, und die uns trotz ihrer tänzerische Dynamik wegen ihrer Stacheln zurückschrecken lässt.
Es ist dies die fast naive und auf jeden Fall unmittelbar authentisch, quasi der Jugendkultur gleich, wirkende Umsetzung der in wissenschaftlichen Arbeit von E. Noelle-Neumann definierten SCHWEIGESPIRALE, die ebenso exakt und menschlich und künstlerisch besser, nämlich in gefühlstiefer Wahrnehmung im Werk von Heinrich Mann “der Untertan” und in Alberto Moravias “Il conformista”, in nicht zu überbietender Differenziertheit und in einer kaum zu ignorierenden ewigen Aktualität längst zum literarischen Denkmal geworden ist.
Dem Kunstwerker ist dieser Stoff, dieses Urphänomen in einer ihm nur scheinbar paradoxal fröhliche Gelassenheit auslösenden Intensität stetig nahe. Es gibt nichts, an dem er diese Leidigkeit nicht ermessen würde. Aber seiner unmittelbaren Erkenntnis dieses die Menschheit seit jeher mit-definierenden Wesenszuges folgt die Weisheit des frohen Mutes. Diese seine, jeglicher Depression ferne Sicht ist das Fundament aller seiner Werke und wohl auch seines ärztlichen Wirkens. Bezeichnenderweise erinnert die Stachelspirale an die DORNENKRONE und es scheint, als hätte Mara diese Krone auseinandergezogen dargestellt, um deren Tatsächlichkeit in jeder ihrer Windungen, vom Kleinen ins Unendliche und Unbestimmte, quasi wissenschaftlich aufgegliedert darzubieten.
Kommen wir nun zu dieser SCHWEIGESPIRALE, kommen wir zu Maxli, der zusammen mit dem etwas älteren Vreneli, den Himmel betrachtet. Vreneli behauptet, der Himmel sei rosa. Maxli, dem die Farbe des sommerlichen und wolkenlosen Nachmittagshimmel durchaus als blau vorkommt, beeilt sich aber nach kurzem Nachdenken zu bestätigen, was die “Chefin” sagt: Ja, der Himmel ist rosa! Was auf dieser Ebene noch als schlaue Vermeidung von Sanktion erscheint, wird spätestens bei Max bereits so weit verinnerlicht sein, dass es ihm selbst nicht mehr bewusst ist. Max ist denn auch jener ideale Gehorsamsneurotiker, der sich die meiste Zeit als bedacht und weitsichtig wahrnimmt, der von sich glaubt, ein idealer Bürger zu sein und der in seiner Pflichterfüllung als Untergebener oder als Vorgesetzter bis zur offenen und kompensatorisch narzisstischen Unmenschlichkeit radikal sein wird. Max und sein weibliches Gegenstück, das es selbstverständlich auch gibt, sind der Stoff aus dem das Podest der Macht besteht, und es ist völlig egal ob dieses Monstrum wirtschaftlicher, militärischer, politisch, religiös-konfessioneller, esoterischer, wissenschaftlicher, partnerschaftlicher, sexueller usw. Ausprägung ist, die Maxen dieser Welt sind immer gerne und übereifrig dabei, sich für die Macht in die Brust oder in den Waffenrock zu werfen, um gnadenlos niederzumachen, was widerborstig genug ist, sie möglicherweise daran zu erinnern, dass auch in ihnen selbst noch immer jener verschüchterte Maxli gefangengesetzt verharrt.
Kann Max geheilt werden,? Wird Max dereinst zu einem, der die SCHWEIGESPIRALE zu verlassen im Stande ist, bevor er jemandes Unheil lauthals als Heil zu deklarieren gezwungen wird oder gar gerne dazu bereit ist? Wird Max, werden wir uns QUERDENKEND vom aufoktroyierten Vollzugsgehilfen-Dasein FREIDENKEN — und dies auf Dauer? Was fast unmöglich scheint, ist eigentlich fast ein Kinderspiel: Werden wir Kinder und starten wir noch einmal. Das bedeutet nicht kollektive Reinfantilisierung, sondern die Wiedergeburt der reinen BLAU-WAHRNEHMUNG. Wagen wir das Wagnis des Denkens und Fühlens ausserhalb jeglicher Vorschriften auf dem Spielplatz jenes Lebens, das unseres ist, und beginnen wir endlich statt zu schweigen zu reden. Nehmen wir in Kauf auch mal das Falsche, das Peinliche und das Unkluge herausbrechen zu lassen. Man kann sich in der Bewegung des Redens verändern, erneuern und klüger werden — und, ja, ist Ihnen nicht auch schon aufgefallen, dass jene stillen Wasser, die so überaus tief gründen sollen, zum überwiegenden Teil langweilige Flachwasser sind?
Sep 2015, W. Studer
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