Serra und Zeitmaschine: Ein Schlüsselfall
Aus der Serie «Sprachperlen»
(stu) Dort wo im Surselva die Russein von Norden zu Tale fällt um dann in der Sohle brav in den noch jungen Vorderrhein einzufliessen als wär nichts geschehen, wird bisweilen mit Erfolg nach ausgewaschenem Gold gesucht. Die Goldsucher schwenken in geduldigem Ritual ihre Siebe zwischen einigen Steinen, die stellenweise wie zufällig geschichtet erscheinen — ein Phänomen, das ja in dieser wilden Gegend durchaus bekannt ist. Was sollte im übrigen, fragt sich vielleicht der Goldjäger in einer Verschnaufpause den Schweiss von der Stirne wischend, eine Mauer quer über den an dieser Stelle in der Regel als Bach, wenn nicht Bächlein, ziellos dahinplauderndern Vorderrhein?
Und was sollte eine Mauer mitten in der Allmend von Sumvitg, knapp 2 Kilometer vor Disentis, mit seinem dem fränkischen Heiligen Martin gewidmeten Kloster, mitten im Kanton Graubünden und der Schweiz weitab jeglicher Grenzen und Ausserhalb jeglicher brisanter Besitzverhältnisse? Niemand und Nichts wäre mit einer Mauer an dieser Stelle ein- oder auszuschliessen, die politische und die topografische Einheit der Gegend ist nicht antastbar und demzufolge sind die scheinbaren Reste einer Trockenmauer oder eines Steinwalls eben doch ein Spiel der bewusstlosen Naturgewalten und wenn der Goldsucher nicht längst schon wieder mit Siebschwenken weitermachte, könnte er sich einige tiefschürfende Gedanken zu Philosophie des Schlosses, des Schliessens und dem menschlichen Wahn stets irgendwen oder irgendjemanden aus‑, weg‑, ab- oder einzuschliessen zu machen. Weil ja die Vorrichtung in der Funktion bivalent-polar und durch wenig und jederzeit aufzubringender Initiationsenergie ja einem Pendel gleich das Schliessen zum Öffnen überführt werden kann, solls auch gleich wieder zurück und das Ganze dann bitte auf ewig und in Lichtgeschwindigkeit zum dynamischen Staccato einer philosophischen Deus ex machina aufheulen lassend. Diese Maschine geriete dem Zauberlehrling zum wundersinnlosen Heisenbergschen Unschärfe relativen Dauer-Oszillator, der einer nichtexistente Wesenheit zwischen Freiheit und Sicherheit verpflichtet bliebe. Der Goldsucher — in diesem Falle dem alchimistischen Goldmacher näher, als derjenige ihm — hätte den überraschenden Vorteil das Unvereinbare in Vereinigung unter die geistige Lupe nehmen zu können.
Was lernten er und wir mit ihm daraus? Nichts und Alles! Nichts, weil er die nutzlos kopfzerbrechende Maschine alsbald in der tiefsten Tiefe der Rheinschlucht hätte zerschellen lassen. Alles, weil er die Maschine, sobald er erkannt hätte, was sie doch eigentlich ist, bestiegen hätte und mit ihr die Vergangenheit und die Zukunft bereiste — ohne dann halt je wider in der Gegenwart ankommen zu können.
Ja, der Kunstwerker hat schon recht. Es gibt keine freie Sicherheit und auch keine sichere Freiheit. Aber jeder Versuch, Freiheit sicherer und Sicherheit freier zu gestalten, darf als menschenwürdiger Prozess ins Auge gefasst und als Annäherung — nicht als Utopie — in das Tun einbezogen werden.
Der Goldsucher im Surselva übrigens hat sich natürlich geirrt — Goldsucher irren ohnehin immer. Die bewussten Steine sind in der Tat die Reste einer frühmittelalterlichen SERRA, einer Landwehr, Barriere und Grenze zwischen der Raetia Prima im Osten und dem Gebiet im Westen, in dem erst später ein Kloster zu Stande kam. Wobei pikanterweise beide Gebiete seit dem 5. Jahrhundert Chlodwig dem merowingischen König der Franken unterstanden. Chlodwig, dessen erste Frau im Harem ihn zum Christentum überreden konnte, fand wohl aus Gründen der besseren Kontrolle, der Administration und weil es ihm gefiel, ein Ekelpaket zu sein, dass seine churrätischen Untertanen in den Gebieten jenseits der SERRA nichts zu suchen hätten. War dieses nun klug, war Chlodwig, der übrigens auch als Christ trotz Protest seitens seiner Favoritin die Vielweiberei beibehielt, überhaupt klug? Wir wissen es nicht. Aber sein Leben war weder sicher noch frei. Es war halt ein Leben wie jedes andere auch.
Letzte Bemerkung: ist Ihnen bei der Betrachtung der Schloss-Skulptur von Mara, die ja nur in ihrem exklusiven Standort auf dem uns bestens bekannten Sockelgeviert überhaupt als Kunstwerk akzentuiert wird, wie Trümmer einer Zeitmaschine aussehen und dass der kleine, so dienstfertig bereitliegende Schlüssel gar nicht zum Schloss passt? Kann der Kunstwerker womöglich das Schloss gar nicht schliessen oder gar nicht öffnen wollen? Ist der Kunstwerker und Psychiater ein Schlüsselkind und sich selbst ein Schlüsselfall? Und was wollen denn eigentlich wir selbst?
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Marie Claire
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Was nützt eu d’ Freiheit wenn er nöd frei händ