288 Zahnbürsten in Kunstharz*), 28x28x22cm (LxBxH), © mara 2016
*) bonding tech St. Oeschger
“Dem Verlust von Gewissheiten durch stetige Loslösung vom Althergebrachten auf der einen Seite stehen in der Multioptionsgesellschaft immer neue Handlungs- und Konsummöglichkeiten auf der anderen Seite gegenüber. Alles wird möglich, der Mensch braucht nichts mehr weiter zu tun, als sich zu entscheiden. Die Frage ist nur, wofür?”
Mathias Binswanger in Die Tretmühlen des Glücks, Verlag Herder
Realisierungsdruck
Die westliche Moderne treibt sich in ihrem Wachstumswahn immer weiter an und sprengt “multioptional” alle Grenzen – eine endlose Party mit endloser Produktevielfalt. Da aber niemand alles haben oder werden kann – wir haben nur einen Magen und ein Leben – sieht sich jede Gesellin/ jeder Geselle der Konsumgesellschaft erst einmal versucht “die besten Optionen” für seine/ihre Personality-Show herausfinden zu müssen. Blöd nur, dass der daraus resultierende Realisierungsdruck – von der Soziologieforschung in repräsentativen Studien mehrfach bestätigt – den ersehnten Anstieg des Glücks geradezu verhindert (Qual der Wahl). Das Generieren von immer neuen Handlungs- und Konsummöglichkeiten setzt zudem eine stetige Loslösung vom Althergebrachten und damit den zunehmenden Verlust von Gewissheiten voraus. Alles wird möglich, nichts ist wirklich. Eine regellose Existenz in der Multioptionalität, frei von religiösen und kulturellen Tabus, frei von überkommenen Bindungen. Du brauchst dich nur zu entscheiden…
Für mein Alter Ego Mara ist die wachstumswahnhafte Illusion – dass unser Leben durch eine stetige Zunahme der Produktevielfalt und durch das Wegrationalisieren von religiösen und kulturellen Tabus immer besser werde – allerdings eine dieser merkwürdigen Rahmenhandlungen, die es gebieten, dem Wachstumsmoloch ins Auge zu blicken, zu maulen und skeptisch-frohgemut nach vorne zu – kunstwerken. Was den sonst? Und wenn sich dann das Ergebnis dieses Schaffens auch noch gänzlich optionslos – als Unikat ohne Qual der Wahl – präsentiert, dann passt‘s scho…
Werk
Wachstum, Wachstum und noch mehr Wachstum! Das ist die Losung, die wir von Politikern und Wirtschaftsexperten eindringlich und unablässig eingetrichtert bekommen. Was die Wachstums-Prediger allerdings erfolgreich verdrängen, ist die Tatsache, dass uns diese Strategie früher oder später in den Abgrund treiben wird. <Nr82 Multioptionsgesellschaft> ist ein weiteres Schaustück zum Wachstumswahn. Diesmal zur Illusion, dass unser Leben durch eine stetige Zunahme der Produktevielfalt und durch das Wegrationalisieren von religiösen und kulturellen Tabus und überkommenen Bindungen immer besser werde. Kunstsprech: GROWTHMANIA-ART
Zum Werkkommentar
Klassifikation
<Nr82 Multioptionsgesellschaft> ist ein Werk aus dem Werkraum Wachsdum
Bekanntgabe
Juli 2016 → Du brauchst dich nur zu entscheiden, Prolog zum Werk Nr82
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Liberace und die wahre Anatomie
Kommentar zum Werk Nr82
von Walter Studer
(stu) Die luzide fröhliche Buntheit, die ob ihrer Nähe zur Palette der Fruchteis‑, Bonbon- und Lutscher- bzw. schweizerisch Schleckstengelhersteller den Betrachter schon fast das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt, ist auch abgesehen vom Datum seiner Publikation als ein Sommerwerk prädestiniert. Die mit diesem Werk evozierte süsselegische Sommersehnsucht nach zärtlicher ewig dauernder Gegenwart, nach lauen Nächten voller Verliebtheit und nach dem Duft von fragloser Freiheit mit Vogelgezwitscher ist das Eine. Das Andere aber, das Eigentliche dieses aus einer letztlich unendlich zu verstehenden Anzahl von unterschiedlichen Zahnbürsten zum Kubus gegossenen Objektes, ist weniger süss und nur übel verdaulich. Maras Nr82, dessen nicht einzusehende Stehseite bzw. Unterseite übrigens eine sehr interessante und eigentlich ebenfalls sehenswerte Eigenschaft dieses Sommer-Werkes bildet, lässt trotz der Pause heischenden Sommerlichkeit ganz und gar kein Sommerloch zu.
Angemahnt ist einer jener Zwänge, aus dem Bouquet des Markt- und Wachstumswahnes. Es ist ein Zwang, der sich aus der Logik der sogenannten Freiheit des Marktes ergibt. Die Idee, dass ein jegliches Produkt und sei es ein noch so einfaches und profanes Produkt sich in einer unsinnigen Fülle von Varianten dem Verbraucher anheischig machen müsse, um ihm jederzeit die beste, die schlechterdings individuelle und überhaupt die ihm würdigste Wahl zu ermöglichen, ist jene Chimäre, der unser Kunstwerker am Beispiel der Zahnbürste habhaft wird und die er einmal mehr kunstwerkend verdinglicht und BE-GREIFBAR GEMACHT macht.
Wie unlustig, zerstörerisch ja letztlich für uns alle tödlich das vom Wachstumswahn als Naturgesetz behauptete, im Werk Nr82 exemplarisch festgehaltene Prinzip eigentlich ist, lässt sich längst mit Bibliotheken von Studien, Statistiken und Dokumentationen belegen. Meine Erfahrung ist allerdings die der WAHRHEITSFLUCHT und WAHRHEITSVERDRÄNGUNG. Denn selbstverständlich vermag niemand ohne mindestens Schaden an Lebenslust zu erleiden sich den Wust an nicht wirklich wegzudiskutierendem und zudem stetig wachsenden Horror zu vergegenwärtigen — auch der Kunstwerker und ich, der Kommentator vermögen dies nicht.
Um aber das Notwendige, nämlich unser aller Problembewusstheit trotz alledem anzustossen, zu erhalten und womöglich in Richtung eines besseren Handlungskonzeptes zu steigern, kann man sich meiner Erfahrung mit mir selbst gemäss niemals auf Ideologien stützen. Meine oft getätigten SELBSTVERSUCHE haben mich gelehrt, mir den Spiegel möglichst weitab vom Moralisieren anhand irgend eines geeigneten irrwitzigen Beispiels vorzuhalten, das mich tendenzfrei zum Lachen und zum Nachdenken meiner Position und Handlungen bewegt.
Im vorliegenden Fall der MULTIOPTIONSGESELLSCHAFT von Mara gibt es das Beispiel par Excellence, gewissermassen das Paradigma aller Popanzerei und das ultimative Monument der allerdings tragischen Lächerlichkeit, die ja — so eben meine Erfahrung aus dem Selbstversuch — auch unsere ureigene ist.
Gemeint ist jenes Italien-polnische Wunderkind, das in Kindstagen schon die kompliziertesten Klavierstücke mühelos und selbstverständlich auswendig, fehlerfrei und dann auch noch mit wirklich musikalischer Bedachtsamkeit zum besten gab. Den für Amerika etwas zu zungenbrecherische Name liess er fallen und legte sich statt dessen den griffigen Künstler- und Bühnenname LIBERACE zu, der — es ist wirklich zum piepen — LIBERÄTSCHI ausgesprochen wird. Dieser Name wurde dem Klaviervirtuosen und Alleinunterhalter, Showmaster und Philosoph des Hedonismus zum Program. In den 60er und 70er Jahren trat er in seiner eigenen weltweit äusserst erfolgreichen — auch in Europa ein Strassenfeger — und bis heute legendären Show auf. Mit jedesmal neuen ausladenden Phantasiekostümen, wallenden Pelzmantel und christbaummässig mit teuerstem Geschmeide behangen liess er sich im auch jedesmal anderen sonderangefertigten Rolls aus wahlweise Gold, Silber und Platin mit Edelstein und Perlen geschmückt auf die Bühne chauffieren um für die Dauer seiner Schau im süsslichst tuntigsten Tonfall unaufhörlich von den Vorzügen seiner Reichtümer zu palavern. Dass er dabei auch noch mit dem besten Fingerkuppen-Tropfen-Parlando das eine Komposition von Chopin je widerfuhr seinen dem jeweiligen Design seines Outfits und seines Rolls angepassten Flügel virtuos bespielte war endgültige Geisterstunde und der Begriff des Genies wurde in ärgster Weise strapaziert. LIBERACE war und ist der Inbegriff des calvinistischen Amerikas, wo die religiöse Überzeugung den Reichtum als Zeichen der Liebe Gottes und deswegen als Garant für den Himmel prädestiniert zu sein verstanden wird. Diese, weil religiös verbundene und motivierte besonders gefährliche Form des Materialismus, die eben die schreiendsten materiellen Ungleichheiten als gottgewollt und mithin als gerecht definiert, ist vor allem seit dem 18. Jahrhundert Motor jener liberalen Ökonomie, die den weltweit zum Naturgesetz erhobenen Wachstumszwang trotz aller damit verbundenen sozialen Ungerechtigkeit zum absoluten Primat erhoben hat. Eigentlich wissen wir alle längst, das diese globale Kettenbrief-Pyramide am Ende platzen muss. Aber in der Regel halten wir es mit der Philosophie und dem Motto von LIBERACE, der in jeder seiner Shows mehrfach betonte, dass ES GUT SEI, DAS ALLERBESTE EINER SACHE NICHT NUR EINMAL, SONDERN GLEICH MEHRFACH ZU HABEN.
Die Tatsächlichkeit des Werkes Nr82 von Mara verliert unter dieser Optik betrachtet jeden Hauch von heiterer Skurrilität — es wird erkennbar als die WAHRE ANATOMIE UNSERER SELBST!
Juli 2016, W. Studer
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